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zu Politik und Recht

Eugen David

Die Schweiz und der europäischer Binnenmarkt nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014

Die Schweiz ist seit 2002 auf eigenen Wunsch am EU-Binnenmarkt beteiligt. Wohlstand und wirtschaftliche Zukunft der Schweiz hängen von dieser Beteiligung ab. Was der Binnenmarkt ist, wie er funktioniert, ist kaum ein Thema, weder im Bundeshaus, noch in den Medien.

Die fünf Grundfreiheiten

Die 28 Mitgliedstaaten der EU (ohne die Schweiz) haben sich im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einstimmig auf fünf Grundfreiheiten im Binnenmarkt verständigt:

  1. die Warenverkehrsfreiheit (Artikel 28 ff. AEUV)
  2. die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Artikel 45 ff. AEUV)
  3. die Niederlassungsfreiheit für Selbständigerwerbende (Artikel 49 ff. AEUV)
  4. die grenzüberschreitende Dienstleistungsfreiheit (Artikel 56 ff. AEUV)
  5. die Zahlungsverkehrsfreiheit (Artikel 63 ff. AEUV)

Alle 28 EU-Mitgliedstaaten waren (und sind) der Ansicht, dass die fünf Grundfreiheiten – ungeachtet durchaus bestehender Umsetzungsprobleme - langfristig die wesentliche Voraussetzung für den Wohlstand in allen beteiligten europäischen Ländern sind.

Umsetzung der Grundfreiheiten durch das Binnenmarktrecht

Mit dem EU-Binnenmarktrecht werden auf EU-Ebene, im europäischen Rat und im europäischen Parlament, die Regeln zur Umsetzung der Grundfreiheiten im EU-Binnenmarkt erlassen. Die Regeln werden immer wieder geänderten Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst. Beispielsweise hat die Finanzkrise dazu geführt, dass im Bankenrecht zunehmend europäische Binnenmarktregeln gelten.

Die Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt

Mit den Bilateralen I und II hat sich die Schweiz aus eigenem wirtschaftlichem Interesse an den Binnenmarktfreiheiten 1) – 3) und 5) beteiligt. Nicht an der Freiheit 4), weil die Banken beim Vertragsabschluss das Bankgeheimnis nicht preisgeben wollten. Einzelne Freiheiten wurden nur teilweise übernommen, weshalb zum Beispiel an der Schweizer Grenze – anders als an den Grenzen der EU-Staaten - immer noch Zöllner stehen, um im Warenverkehr Zölle und Mehrwertsteuer zu kassieren.

Das EU-Binnenmarktrecht regelt insbesondere wirtschaftliche Beziehungen. Es betrifft praktisch alle Branchen. Das heutige schweizerische Wirtschaftsrecht wird zur Hauptsache durch das EU-Binnenmarktrecht bestimmt. Auch das neue EU-Finanzmarktrecht wird die Schweiz übernehmen.

Übernahme des Binnenmarktrechts

Die Schweiz hat in den Bilateralen I und II bewusst darauf verzichtet, sich am Erlass und an der Auslegung des europäischen Binnenmarktrechts zu beteiligen. Sie hat es vorgezogen, die EU-Regeln, meist auf dem Verwaltungsweg und ohne Beteiligung des schweizerischen Gesetzgebers, einfach tel quel zu übernehmen. Die starken rechtsnationalen Kräfte in der Schweiz, die das Land auf den „bilateralen Königsweg“ gezwungen haben, meinen, das sei souverän. Der Bundesrat hat sich leider bis heute dieser Sichtweise angeschlossen.

Die Masseneinwanderungsinitiative

In der Abstimmung vom 9. Februar 2014 hat das Volk der rechtsnationalen Masseneinwanderungsinitiative zugestimmt.

Diese Initiative verlangt, es seien die Grundfreiheiten 2) und 3), d.h. die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit für Selbständigerwerbende aus den Bilateralen Verträgen zu streichen, jedenfalls soweit es nicht Schweizer, sondern EU-Bürger betrifft.

Was Arbeitnehmerfreizügigkeit im Binnenmarkt heisst, steht in Artikel 45 AEUV:

Arbeitnehmer der Binnenmarktänder haben das Recht, sich im gesamten EU-Binnenmarkt um Stellen zu bewerben und sich in jedem Binnenmarktland aufzuhalten, um dort eine Beschäftigung auszuüben.
Jede auf Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer aus Binnenmarktländern ist im Binnenmarkt unzulässig.

Das soll nach dem neuen Verfassungsartikel für EU-Bürger in der Schweiz nicht mehr gelten.

Pacta sunt servanda

Wie in jedem anderen Vertragsverhältnis kann nicht ein Vertragspartner vom andern verlangen, dass der Vertrag einseitig zu seinen Gunsten geändert wird. Dementsprechend kann die Schweiz die Bilateralen Verträge I und II im Sinne der Abstimmung vom 9. Februar 2014 nur ändern, wenn die EU als Ganzes und jeder einzelne der 28 EU-Mitgliedstaaten zustimmen.

Wer von seinem Vertragspartner Änderung verlangt, muss sich in seine Lage versetzen, um abschätzen zu können, ob seine Forderungen Erfolgsaussichten haben. Ausserdem ist es nützlich zu wissen, wer alles zustimmen muss: jeder einzelne der aktuell 28 EU-Mitgliedsstaaten (meist durch Regierungs- und Parlamentsmehrheit), die Mehrheit des EU-Parlaments, die Mehrheit des EU-Rates, die Mehrheit der EU-Kommission, der EuGH.

Weshalb sollten die EU-Organe eine Diskriminierung der EU-Bürger auf dem Schweizer Arbeitsmarkt akzeptieren? Weshalb sollten die EU-Mitgliedstaaten eine Diskriminierung ihrer Staatsangehörigen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt akzeptieren? Darauf hat bis heute niemand eine Antwort geben können. Die Chancen einer Vertragsänderung zur Umsetzung der Volksabstimmung scheinen bei realistischer Einschätzung minimal.

Ausscheiden der Schweiz aus dem Binnenmarkt?

Es sieht so aus, als ob sich die Schweiz am 9. Februar 2014 gegen eine weitere Beteiligung am EU-Binnenmarkt entschieden hat. Die rechtsnationalen Kräfte prognostizieren als Konsequenz ihrer Initiative grosse Vorteile für das Land. Ich bin da definitiv anderer Ansicht.

Selbstverständlich ist Schweiz souverän, aus dem Binnenmarkt auszusteigen und die Grenzen für den Warenverkehr, den Arbeitsmarkt, den Dienstleistungsverkehr und den Zahlungsverkehr wieder hoch zu ziehen. Die EU wird ihrerseits zur Schweiz die EU-Aussengrenzen hochziehen. Jeder ist seines Glückes Schmid. Um keine Dummheiten zu begehen, sollte man aber vorher gründlich darüber nachdenken.

02.06.2014

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